Neutral soll der Raum für Malerei und Skulptur sein. Das ist die Ideologie des White Cube der Moderne. Doch Fertiges nur zu zeigen, ist in historischen Gebäuden – und manchmal auch in allerneuesten Architektenwundern – nicht so einfach: Der Charakter des Ortes will berücksichtigt sein. Anna Guðjónsdóttir hat für ihre Präsentation in der gut 250 Jahre alten Pinneberger Drostei nur zum geringsten Teil auf bereits fertige Bilder und Objekte zurückgegriffen, das meiste wurde neu erstellt und präzise auf diesen Ort zugeschnitten. Das zeigt sich in der Übernahme von Maßen und Proportionen und in der Inszenierung des Rundgangs. So werden auch das Gebäude und seine Historie zum Material der Künstlerin: Der alte Herrensaal erhielt in barocker Manier einen Bilderzyklus, mit der Raumzeichnung aus plastisch gesprengten Vitrinen und Leinwänden wird der Blick in den beiden Gartenzimmern geöffnet, und ein blaues und ein rotes Kabinett ermöglichen intime Begegnungen. In der Etage unter dem Dach hat zudem die japanische Künstlerin Akane Kimbara das große Konvolut der Zeichnungen von Anna Guðjónsdóttir gesichtet und gibt auf etlichen Tischen mit einer Auswahl dieser Notationen einen weitergehenden Einblick in die Welt, die hinter den Inszenierungen der Beletage steht.
Die vielen Papierarbeiten umfassen Notizen in drei Sprachen, kalligraphische Wortbilder und bildhafte Skizzen. Solche Notation eines Gedankenflusses hat viel damit zu tun, was Kleist einst „die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ nannte (*1). Dieses Mantra aller Improvisateure, Vortragsprofis und Therapeuten muss auch für die Bildkunst beansprucht werden. Aber statt vor den Wänden des Ateliers Selbstgespräche zu führen (… das Herstellen von Kunst kann auch sehr einsam sein), vertrauen Künstler sich spontan dem Papier an. Doch der Topos der „allmählichen Verfertigung der Gedanken“ ist noch weitgreifender: Er bezieht sich auf den prozessualen Charakter aller ästhetischen Hervorbringungen. Generell ist ein suchendes, in je einzelnen Realisierungsschritten voranschreitendes Arbeiten eine Art Motor, um ein Werk zu erarbeiten, um immer wieder weiterzumachen und neue Bilder zu erzeugen. Die sind dann, auch wenn sie für sich fertige Arbeiten sind, niemals absolut geschliffene, einmalige Meisterwerke, sondern Teile einer notwendig andauernden Produktionskette, Schritte auf dem Weg zu einem erst nach und nach sichtbar werdenden Ziel.
Als ein kleines Beispiel für dieses bis ins Detail skizzierende Voranschreiten findet sich in Anna Guðjónsdóttirs Atelier eine unerwartete historische Referenz: In der alten Knochenleimfabrik in Schenefeld ist neben allen notwendigen Materialien auch ein mit Notizen versehener Ausstellungskatalog der Hamburger Kunsthalle zu entdecken. Er trägt den Titel „Von der Schönheit der Linie“ und behandelt die Graphik des italienischen Zeichenkünstlers Stefano della Bella (1610–1664). Es ist das Geflecht feiner leichter Federzüge, es sind die bis in die Abstraktion gehenden Linienknäuel, wie sie sich beim Florentiner della Bella finden, die diesen Bezug zum Barock für Anna Guðjónsdóttir interessant machen. Denn viele ihrer scheinbar monochromen Bilder sind im Detail aus einem feinen System von sanft vibrierenden Linien aufgebaut – und das nicht nur als Materialspur, weil schon der Pinsel selbst aus einzelnen Haaren besteht. Bei genauem Blick zeigt sich in der Tiefe relativ einfarbiger Bilder ein langsam aufgebautes Geflecht von Linienwirbeln, das so wirken kann wie eine unterlegte geheime Schrift.
Anna Guðjónsdóttir denkt in der Zeichnung und schreibt im Bild, malt in großem Format und konstruiert Räume in zwei und drei Dimensionen. Ihre Bildsprache begegnet den fundamentalen Fragen des Lebens in neugedeuteten Metaphern der Malerei und der Raumorganisation zwischen Begrenzung und Entgrenzung, zwischen subjektiver Aneignung und universeller Öffnung. Ihr Empfinden ist vom Norden bestimmt, so komplex dieser Begriff auch sein mag. Aber die „Tochter eines Gottessohnes“ – so die Übersetzung ihres Nachnamens – sagt selbst, dass ihr „der Wikinger noch im Nacken sitzt“. Island, ihre Heimat am Schnittpunkt der Kontinentalplatten von Europa und Amerika, ist von Eis wie von Vulkanen geprägt. Vielleicht liegt es an der Gleichzeitigkeit solcher Gegensätze, dass die Künstlerin in ihrer Arbeit Elemente verbindet, die als widerstreitend empfunden werden: Sie präsentiert emotionale Malerei bis hin zu Glut und Blut, ist in ihrer Kunst zugleich aber auch höchst reflektiert und konzeptuell. Und das bis ins einzelne Bild selbst: Die Vitrinen-Bilder beziehen ihre Spannung durch die Kombination von eindeutig konstruktiven Abgrenzungen und unbestimmten Tiefen eines fiktiven Raumausschnitts.
Anna Guðjónsdóttir nennt diese Präsentation, die mit ihren Vitrinenbildern und Farbkabinetten die Drostei zum Schaukasten ihres Werkes macht: „Greensleeves“.
Doch keine grüngekleidete Lady weit und breit. „Greensleeves“ ist ein englisches Volkslied im italienischen Stil aus dem 16. Jahrhundert, es ist die Wehklage eines verlassenen Liebenden. Knapp zweihundert Jahre älter, jedoch ähnlich einfach wie der schlichte barocke Backsteinbau der Drostei (1765–67), wird das Lied schon bei Shakespeare zitiert. Es verbreitete sich erst im britischen Empire und wurde dann in der ganzen Welt bekannt: Vom Zitat in Ferruccio Busonis Oper „Turandot“ bis zum Rocksong finden sich leicht weit über dreißig Stil- und Sprachvariationen dieses Liedes.
Alas my loue, ye do me wrong, / to cast me off discourteously: / And I haue loued you so long / Delighting in your companie. / Greensleeues was all my ioy, / Greensleeues was my delight: / Greensleeues was my heart of gold, / And who but Ladie Greensleeues.
O weh, mein Lieb’, tust Unrecht mir / grob fort zu stoßen mich im Streit / so lange hielt ich treu zu Dir / voll Glück an Deiner Seit’. / Greensleeves war all mein Freud’ / Greensleeves war mein Entzücken / Greensleeves war mein gülden Herz / Und wer außer Lady Greensleeves?
Solche Musik – bei der Eröffnung der Ausstellung unterbrach ein Chor die Eröffnungsrede mit diesem Lied – scheint ein universeller Ausdruck, eine „Sprache“, in der ohne Probleme transkultureller Austausch praktiziert wird. Bei Jazz und Weltmusik, Elektronik und Dancefloor, Pop und Teilen von Klassik und Mittelalterklängen scheinen Nation und Hautfarbe, Religion und übrige kulturelle Verortung so gut wie keine Rolle zu spielen: „Nada Brahma“ – die Welt ist Klang und der große Klang verbindet alle Menschen. Etwas weniger esoterisch: Es gibt Musik, die unabhängig von Alter und Entstehungskontext dem Empfinden einer Vielzahl von Menschen zugänglich ist. Ihr spezieller kultureller Kontext ist, anders als bei allen anderen Künsten, nicht ausgrenzend, er kann, er muss aber nicht gewusst werden. Vielleicht besteht ein Lied wie „Greensleeves“ aus so grundlegenden Ton-Findungen, dass es zu dem gehört, was im Wesen des Menschen auf Resonanz trifft – so wie die Harmonie gotischer Kathedralen, die nach den Maßsystemen der Sphärenmusik gebaut sind. Solche Strukturen zu finden, zu nutzen und wirksam zu machen, ist auch für die heutige bildende Kunst wichtig und wirkungsvoll. Anna Guðjónsdóttir ist an solchen übergeordneten Systemen und Wirkungen gelegen. Der blaue Raum oder das rote Kabinett der Ausstellung sind in ihrer Erstellung ebenso berechnet wie in ihrer Wirkung unmittelbar. Und die Spannung zwischen dem Festen und dem Unbestimmten, der Rahmung und der Wolke, der Regel und der freischwebenden Idee sind auch jenseits magischer Wirkkräfte durchaus allgemeine Erfahrungen.
Bilder- und Lebenszyklus
Die vier Triptychen im Herrensaal, extra für diesen Ort erstellt und die hier gefundenen Maße aufnehmend, scheinen eher distanzierte Farbräume zu sein. Sie gehören aber in eine Reihe mit den traditionell großen Bilderzählungen zentraler Schlossräume. Immer in der Vierzahl und oft in thematischer Überlagerung handeln die von den vier Jahreszeiten, den vier Kontinenten, den vier Himmelsrichtungen, den vier Elementen (Luft, Feuer, Wasser, Erde), den vier Weltzeitaltern (Gold, Silber, Bronze, Eisen), den vier bis heute gültigen weltlichen Kardinaltugenden der antiken Philosophie und der christlichen Morallehre (Justitia, Temperantia, Virtus und Sapientia, also Gerechtigkeit, Mäßigung, Tapferkeit und Weisheit); dazu kommen in eher religiöser Symbolik auch die vier Erzengel, die vier Evangelisten, die vier Paradiesflüsse und vieles mehr.
Im Nachklang solcher Konzepte stehen nun Anna Guðjónsdóttirs vier großformatige Variationen. Konstruktiv durch die präzise Struktur eines Vitrinenrahmens gefasst, zeigen sie sich in relativ freier malerischer Unbestimmtheit. Doch der abstrakte Bildaufbau vermag in seiner Unterschiedlichkeit Geschichten zu erzählen. Der Zyklus beginnt beim Eingang auf der einen Seite des Raumes mit einem eher minimalen Bild, mit dem langsamen Wachsen und Werden der Struktur, der Knochen, des Gerüsts, der Konstruktion, auf einer nur mit Knochenleim grundierten Leinwand. Solches Wachsen ist aber ohne den Hintergrund der existenziellen und historischen Rahmenbedingungen nicht möglich. Das ist hier in geradezu wörtlich zu nehmender Metaphorik dem nicht zufälligen Durchscheinen der Rahmenkonstruktion durch die dünne Bild-Haut zu entnehmen. Es folgt ein helleres Bild: Wie hinter einem Schleier zeigt sich in aller Unschuld die jugendfrische Welt.
Auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes sind die Seelenlandschaften dunkler. Die Reife ist nicht zu gewinnen ohne die Kontamination mit den schmutzigen Seiten der Welt. Aber das saftige Dunkel ist auch fruchtbar. Und das Wahrgenommene muss gedeutet werden: Gerade hier sind manche der Pinselornamente wie eine geheime Schrift lesbar. Und schließlich – im vierten Bild – in sehr dunklen Tönen, in Herbst- und Humusfarben, erdig, aber auch schwebend fragil und still, ein konsolidierender Abschluss „wie ein Phönix aus der Asche“ (*2).
Landschaft, Vitrine und Betrachter
Landschaft ist ein zentraler Begriff für Anna Guðjónsdóttirs Malerei. Doch betrachtet man ihr Werk unter dem Gesichtspunkt von „Landschaft“, sollte neben den Bildern auch der Begriff selbst einer genaueren Betrachtung unterzogen werden. Den Unterschied von Landschaft und Natur definiert eine sehr alte Geschichte: Im April 1336 stieg der italienische Gelehrte und Dichter Francesco Petrarca auf den fast 2000 Meter hohen Mont Ventoux in der Provence. Das war die erste bekannte, literarisch überlieferte Bergbesteigung seit der Antike. Das strapaziöse Unterfangen diente nicht dazu, um daraus einen praktischen Nutzen zu ziehen, sondern allein dem neugierigen Wunsch nach bloßer Betrachtung oder, wie man viel später sagen wird, dem „interesselosen Wohlgefallen“. Dieser Schritt aus der Abhängigkeit von einer gottgegebenen und eher menschenfeindlichen Natur zu deren Verständnis als einer subjektiv interpretierbaren Landschaft darf als Epochenwende zur Neuzeit gelten. (*3) Es ist die gleiche Zeit, in der der Florentiner Giotto di Bondone in der Malerei das körperliche Verständnis der Realität und die Projektion der Raumtiefe wieder einführt, was als Beginn der Renaissance-Kunst gilt. Beides ist bis heute aktuell, da beides immer noch grundlegend dafür ist, wie die Welt und die Kunst betrachtet werden. Drei Bäume an einem See als schön zu empfinden, einen kahlen Felsen als heroisch, all das sind subjektive Wahrnehmungen, die in einem Wechselspiel von in der Welt Vorfindbarem und dessen ästhetischer Abbildung geprägt werden. In diesem Sinne ist Sehen ein „Wiedererkennen“ und also in heutigen Begriffen immer schon medialisiert. Dabei geht es nicht allein um Projektionen einer wiederzuerkennenden Außenwelt: Kein Hirsch am Wasserfall, kein Wanderer über dem Nebelmeer muss unmittelbar erkennbar sein. Es reicht, in einer Farbabstufung einen Horizont zu vermuten, es reicht, in kreiselnden Formen Spuren von Sand, Wasser oder Wolken zu erkennen. Ein Bild ist immer auch als „Seelenlandschaft“ seines Autors zu lesen. Nicht im Abmalen der Natur, sondern im Herausarbeiten eines möglichen Wesensgehaltes liegt die Kunst. Man findet diesen manchen immer noch irritierenden Unterschied schon am Anfang des 19. Jahrhunderts in der Kunsttheorie der deutschen Romantik. Carl Gustav Carus, Arzt, Naturwissenschaftler und Maler, schreibt um 1820 in seinem „IX. Brief über die Landschaftsmalerei“, dass die Landschaftskunst über die Einfühlung hinaus die Erkenntnis zu befördern habe: „Wie indes zur richtigen Auffassung des eigentlichen Charakters eines Tieres nicht eine tote Abformung seiner Umrisse, sondern die lebendige Auffassung eines künstlerischen Auges gehört, so scheint es nur möglich, den eigentlichen Typus und die wahre Eigentümlichkeit eines Gebirges durch eine eigentlich künstlerische Darstellung, mit einem Worte: durch eine wahrhaft geognostische Landschaft wiederzugeben.“
Anna Guðjónsdóttir rahmt ihre Subjekte immer wieder mit dem Motiv der Vitrine. Etwas an sich gar nicht Begrenzbares wird in fast paradoxer Weise umgrenzt, eingehegt und verfügbar gemacht. Island hat eine großartige, eindrucksvolle Landschaft. Genaugenommen aber handelt es sich dabei gar nicht um Landschaft, also eine durch menschliche Arbeit und menschliche Wahrnehmung ästhetisch überformte Natur, sondern um eine weitgehend im Urzustand belassene Gegend. Speziell bei widrigen Wetterlagen ist es da wesentlich besser, wenn zwischen dem menschlichen Betrachter und dem da draußen eine Glasscheibe ist, eine Brille, das Fenster eines Autos oder besser noch eines Hauses. Zudem bedingen Klima und Geschichte des Landes, dass es weit weniger draußen befindliche Kulturobjekte gibt als in Südeuropa. Und sucht man die Wunder der Ferne, befinden sie sich nicht nur dort in den Vitrinen der Händler und Museen: Anna Guðjónsdóttirs immer wieder aufgegriffenes Motiv der Vitrinen-Schränke zitiert ein Grundelement der Sammlung und der Musealisierung. Bei ihr evozieren nicht klassifizierte Einzelobjekte eine Stimmung, die Naturgefühle selbst werden in den Glaskasten eingefangen.
Die gemalten, bemalten, befüllten, gesprengten, in Teilen angedeuteten oder scheinbar vor den Bildern befindlichen Vitrinen sind auch ein Zeichen der Medialisierung des Blicks. Sie sind ein Element, das vor jeder oft als unmittelbar vorgestellten künstlerischen Äußerung die immer vorhandene Vorinformation, den Zitatcharakter, den Ausschnitt und die Interpretation aufzeigt. Manchmal sind die Vitrinen und ihr Glas real, manchmal wandert alles ins Bild und nicht immer ist das Vitrinenelement ausdrücklich dargestellt: Legen gläserne Vitrinen vor den Inhalt eine latent abweisende, abschließende, aber auch spiegelnde Ebene, erhalten manche Bilder eine hochglänzende Lackoberfläche. Die schließt den komplexen, wirbelnden, in die Tiefe geschichteten Bildraum dann fast wie eine Glasschicht ab. Doch die Distanzierung durch die glatte Oberfläche ist nur ein Aspekt des Effekts, der andere sind die dabei entstehenden Spiegelungen: Sie machen den Raum und die Betrachter unausweichlich zum Teil der Arbeit. Die geradezu industriell hochglanzlackierten Bilder mit ihrem Geflecht von Linienwirbeln beschränken sich in dieser Ausstellung in der Drostei auf das rote Kabinett.
Keine heutige Kunst kann ohne Reverenzen zur Kunstgeschichte auskommen. Noch stärker als im Herrensaal liefern die Kabinette solche Bezüge. Der blaue Raum ist sehr deutlich ein romantisches Zimmer. Blau ist die Farbe der aufsteigenden Bewegung. Blau ist die Farbe des Himmels und der Maria. Blau war als Farbe wertvoller als Gold, war es doch lange nur aus gemahlenem Lapislazuli zu gewinnen. Blau ist heute untrennbar mit der Erinnerung an Yves Klein verbunden: Er signierte den Himmel über Nizza, er richtete die malerische Sensibilität auf den reinen Urzustand. Wenn Anna Guðjónsdóttir hier den Ausblick auf den blauen Himmel durch gemaltes Blau ersetzt, das Sichtbare durch die erwünschte Stimmung, ist das gleich als ein mehrfaches Zitat zu sehen. Einiges daran entspricht der Kunstpraxis der Romantik (*4). Es sei daran erinnert, dass die schönen Landschaften beispielsweise von Caspar David Friedrich keine realistischen Bilder sind, es sind Bildmontagen aus dem Atelier. Und bei manchen Bildnissen romantischer Maler in ihren Ateliers ist zu erkennen, dass dort der untere Bereich der Fenster so gestaltet war, dass zwar Licht eindringt, aber keine direkte Aussicht möglich ist. Dazu passt der Satz von Caspar David Friedrich: „Eine Landschaft ist ein Seelenzustand. Der Mensch soll nicht bloß malen, was er vor sich sieht, sondern auch, was er in sich sieht.“ Solche subjektiven Impressionen führen konsequenterweise zur abstrahierenden und farbigen Expression. Eine farbreduzierte Urlandschaft kann durchaus in einem monochromen Bild empfunden werden.
Durch einen geheimnisvollen, schlitzhaften Eingang ist dann das rote Kabinett zu betreten. In diesem „Juwelenraum“ treffen kleine, aber glühende Bildformate wieder auf die ordnende Seite der Künstlerin. Statt in Vitrinen hat Anna Guðjónsdóttir sie hier in ein lineares Ordnungssystem eingefügt, das ein wenig an die Bilder von Mondrian erinnert. Eine mehr als formale Reverenz: Vor den von ihm so bekannten rhythmischen Abstraktionen war Mondrian jahrelang ein Maler karger Landschaften. Und er liebte die Musik, speziell den Jazz.
In diesem Raum leuchtet die Intensität des mit etwas Schwarz kontrastierten tiefen Rots. Vor diesen lavaglühenden, flammend-fließenden Farbtafeln liegt schützend die glänzende Glasur. Sie spiegelt die wichtigsten Personen einer Kunstausstellung in die Bilder: die Besucher. Es gibt von Anna Guðjónsdóttir eine frühe Arbeit – ausschließlich klarer Lack auf unbemalter Leinwand. Es ist gut vorstellbar, dass ein solches Bild überhaupt nur aus dem besteht, was vor ihm stattfindet: Der Versuch, etwas zu sehen, wird zum lebendigen, stets anderen Bildinhalt dieses nur scheinbar minimalistischen Bildkonzepts. Ohne die Reflexionen sind die Vitrinen und die Lackbilder nicht zu sehen und auch nicht abzubilden: In vollem Einklang mit der Unschärferelation der Physik und den sogenannt „postmodernen“ Theorien gibt es keine objektiv richtige Rezeption des Werkes mehr. Es gibt keinen Zugang zu dieser Kunst, ohne dass der Betrachter sich selbst einbringt. Und das nicht bloß als Vorstellungsarbeit, sondern ganz bildlich. Somit erhält ein Lackbild von Anna Guðjónsdóttir (wie einst die Perspektive-Konstruktion der Renaissance) mehrere Wirkungsrichtungen: Es wirkt in die Tiefe hinein, in der, ganz im Sinne von „Alice im Wunderland“ (*5), die Welt hinter den Spiegeln zu durchstreifen ist, und es wirkt in den realen Betrachter-Raum zurück. Das ist für die lebendige Wirkung essentiell. Denn ohne den Einbezug der Betrachter bleibt alle Kunst nur ein Haufen Material. Fragt man Anna Guðjónsdóttir „Was ist das Wichtigste, was die Betrachter für deine Bilder brauchen?“, so ist die Antwort kein Verweis auf die Biographie und kein Bezug auf eine elaborierte Kunsttheorie. Die Antwort ist: „Sich selbst!“
© Hajo Schiff, Hamburg und São Sebastião, 2016/17
(*1) Heinrich von Kleist: „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“. Kleine Schriften zur Kunst- und Weltbetrachtung, Sämtliche Werke und Briefe (Dritter Band), München und Wien, 1982 (Carl Hanser Verlag), S. 319 f.
(*2) Der Phönix ist in der griechischen Mythologie ein Vogel, der am Ende seines Lebenszyklus verbrennt oder stirbt, um aus dem verwesenden Leib oder aus seiner Asche wieder neu zu erstehen. Diese Vorstellung findet sich heute noch in der Redewendung „Wie ein Phönix aus der Asche“ für etwas, das schon verloren geglaubt war, aber in neuem Glanz wieder erscheint.
(*3) In einem auf den 26. April 1336 datierten „Brief“ (eher eine literarische Kunstform), der auf Latein verfasst und an den Frühhumanisten Dionigi di Borgo San Sepolcro gerichtet war, schildert Petrarca, wie er zusammen mit seinem Bruder den Mont Ventoux in der Provence bestieg. Oben angekommen, betrachtete er die Landschaft und wandte sich, angeregt durch ein „zufällig“ aufgeschlagenes Wort aus den „Confessiones“ des Augustinus, vom Mittelalter ab, sich selber und damit der radikalen Subjektivität seiner Dichtung zu (auch und gerade, wenn das Zitat ursprünglich anders, nämlich weltverneinend gemeint war, was durch den Kontext aber relativiert wird): Et eunt homines mirari alta montium et ingentes fluctus maris et latissimos lapsus fluminum et oceani ambitum et gyros siderum, et relinquunt se ipsos. (Und es gehen die Menschen hin, zu bestaunen die Höhen der Berge, die ungeheuren Fluten des Meeres, die breit dahinfließenden Ströme, die Weite des Ozeans und die Bahnen der Gestirne und vergessen darüber sich selbst.) (Confessiones X, 8). Das Zusammenfallen von Naturerlebnis und Rückwendung auf das Selbst bedeutet eine geistige Wende, die Petrarca, das Bekehrungserlebnis betreffend, in eine Reihe mit Paulus von Tarsus, Augustinus selbst und Jean-Jacques Rousseau stellt. Petrarca sah die Welt im Unterschied zu mittelalterlichen Vorstellungen nicht mehr als eine feindliche und für den Menschen verderbliche, die nur Durchgangsstation in eine jenseitige Welt ist, sondern gibt ihr eine eigene Wertigkeit und führt ganz modern zugleich den reflexiven Zweifel genau daran ein.
(*4) Vollständig abgedruckt ist der Brief z. B. in „Briefe des Francesco Petrarca. Eine Auswahl. Übersetzt von Hans Nachod und Paul Stern“, Berlin, 1931 (Verlag Die Runde). Zur Wertung dieses Vorgangs siehe auch: „Landschaft“ (1962), in: Joachim Ritter: „Subjektivität“, Frankfurt, 1974 (Bibliothek Suhrkamp 379), S. 141 ff.
(*5) Es ist immer wieder zu betonen, dass die Romantik, als künstlerisch-philosophische Bewegung verstanden, weit mehr war, als es die heutig alltäglich übliche Verwendung des Wortes „romantisch“ (im Sinne von Candle-Light-Dinner für zwei) abdeckt. Die Brüchigkeit einer strikt individuellen Wahrnehmung, die Forderung nach einer reflexiven Kunst (so beispielsweise Schlegel: „Man muss im Dargestellten das Darstellende immer mit darstellen“), die erkannte Ambivalenz der Erscheinungen im Umschlag zwischen der Offenbarung des Göttlich-Schönen und dem Auftritt des Teuflisch-Grausamen, die Akzeptanz der Ironie, des Non-finito und die Verwendung des Collagenhaften, das Interesse für die naturwissenschaftliche Gründung der Erscheinungen und der Weg davon weg zur Abstraktion (siehe „Der Mönch am Meer“ und Goethes in diesem Fall ebenso Unverständnis signalisierende wie eben doch genau richtige Bemerkung: „Die Bilder von Maler Friedrich können ebensogut auf den Kopf gesehen werden …“) … all das macht die Romantik in Wahrheit zur Wurzel und Gründung der Kunst der Moderne.
Zur Vertiefung dieses Themas gibt es zahlreiche Bücher. Erwähnt seien: Robert Rosenblum: „Die moderne Malerei und die Tradition der Romantik“, München, 1981 (Schirmer/Mosel Verlag) oder Rüdiger Safranski: „Romantik. Eine deutsche Affäre“, München, 2007 (Hanser).
(*6) „Alice hinter den Spiegeln“ (auch: „Alice im Spiegelland“ sowie: „Durch den Spiegel und was Alice dort fand“) ist ein von Lewis Carroll verfasstes Kinderbuch und die Fortsetzung zu „Alice im Wunderland“ (1865).